Erich Satter Philosoph

Leseprobe

"Lexikon freien Denkens":

Ästhetik, die [griech. - aisthesis]

Das deutsche Wort Ä. wird von dem griechischen Begriff aistesis abgeleitet und bedeutet zunächst nur sinnliche Wahrnehmung. In der spekulativen Philosophie erweitert sich dieser Begriff jedoch zu einem philosophischen Terminus, der neben Ethik, Erkenntnistheorie, Logik und Metaphysik, zu den fünf klassischen Disziplinen der Philosophie gehört. In wissenschaftlicher Hinsicht ist damit Ä. die Lehre von der sinnlichen Wahrnehmung. Eine genauere Definition ist dann eine weites und sehr kompliziertes Feld. Zumal der Begriff Ä. in einer Dichotomie gefangen zu sein scheint. Wird er dazu benutzt um Gegenstände nach dem Grad ihrer Schönheit zu beurteilen, steht er synonym zu einem erweiterten Begriff für Geschmack. Im Zusammenhang mit der Theorie vom "Schönen, Wahren und Guten" gebraucht, wird er zu einer Wissenschaft über die verschiedenen Geschmacksrichtungen. Genauso wie Ethik, nicht gleich Moral ist, sondern die Wissenschaft von der Moral, steht der Begriff Ä. nicht nur für Geschmack allein, sondern  auch für eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit sinnlichen Empfindungen. Während es jedoch in der Moralwissenschaft mit der Bezeichnung "Ethik" für diesen erkenntnistheoretischen Bereich eine semantische Trennung in der Begrifflichkeit gibt, ist dies bei dem Terminus Ä. leider nicht gegeben und seine Bedeutungsebene nur im syntaktischen Gebrauch erfassbar.

Bei unserer Umgangssprache finden wir häufig beide verschieden gewichtete Merkmale angesprochen. In der Regel wird aber dann der Begriff Ä. schwerpunktmäßig synonym für Geschmack, besser als gefühlsmäßigen Ausdruck für den Grad von "Schönheit", - innerhalb eines individuellen Qualitätsempfindens, - verwendet. Wird jedoch etwas als hässlich betrachtet, findet das Wort Ä. seltener eine Anwendung. Gelegentlich wird jedoch auch in der Alltagssprache dies oder jenes als nicht ästhetisch bezeichnet und damit immer eine Abneigung ausgedrückt.

Bereits auf dieser semantischen Ebene, wird neben einer emotionalen Beeinflussung des Begriffes Ä. eine epistemische Gewichtung ↑ erkennbar. Mit dem philosophischen Terminus Ä. ist damit eine intellektuelle Wertung des Schönheitssinns verbunden. Ob jemand einen "guten" oder einen "schlechten" Geschmack hat, ist jedoch nicht ausschließlich von dieser Voraussetzung abhängig. Sinnliche Wahrnehmung reduziert sich auch nicht nur auf eine optische Wahrnehmung, sondern bei unserer Betrachtung soll die akustische Empfindung gleichberechtigt daneben stehen, während anderen sinnlichen Reizen der Außenwelt, wie Geruchs-, Geschmacks- und Tastsinn unter diesem Gesichtspunkt zwar nicht die gleiche Bedeutung zukommt, sie aber auch nicht völlig davon zu trennen sind. Speziell in der akustischen Wahrnehmung von Musik entscheidet der persönliche Kunstsinn darüber, ob die Musik als gut oder als schlecht empfunden wird, wobei man in der Alltagssprache durchaus noch von schöner, aber weniger von ästhetischer Musik spricht. Mehr noch als in der bildenden Kunst, also der optisch wahrnehmbaren, ist jedoch in der akustisch-schöpferischen Kunst der Musik, der emotionale Bereich angesprochen. Zum Musikempfinden, bedarf es nur des Gefühls für heitere oder traurige Klänge, um von ihr berührt zu werden. Je höher jedoch eine geschmackliche Sensibilität ausgebildet ist, um so besser muss die musikalische Qualität sein, um emotionale Reize auszulösen. So kann man davon ausgehen, dass der wertneutrale Geschmack allein emotional bestimmt ist, während bei der Möglichkeit einer Beurteilung von guter und schlechter Qualität eine kognitive Komponente hinzu kommt. Die  Verbindung einfacher sinnlicher Wahrnehmung mit einer intellektuellen Beurteilung ermöglichte erst eine ästhetische Wertung. Ä. ist dann nicht mehr nur "sinnliche Wahrnehmung" allein, sondern die "Wissenschaft von der sinnlichen Wahrnehmung" oder nach Alexander Gottlieb Baumgarten (1714-1762) die "Wissenschaft der sinnlichen Erkenntnis". Hiermit ist die zweite und entscheidende Bedeutungsebene von Ä. angeführt: Ä. in der Syntax mit der Idee vom "Schönen, Wahren und Guten".

In der Kunst soll auch ein ethisches Ziel angesprochen und transparent gemacht werden. Dabei wird versucht, aus dem Seienden in der Lebenswirklichkeit, auf ein Seinsollendes im Idealzustand hinzuweisen. Eine der Funktionen von Kunst ist, die Wirklichkeit ästhetisch zu überhöhen, was auch auf einen Idealzustand hinweist. Beides dient der Erweckung von Wertbewusstsein und so besteht eine Reflexion von ästhetischer zu ethischer Zielsetzungen. Es ist die Verknüpfung von Ethik, als "Wissenschaft der Moral", mit der Ä. als "Wissenschaft der sinnlichen Erkenntnis". Wenn diese Erkenntnis auch den Schwerpunkt einer philosophischen Auseinandersetzung mit dem Begriff Ä. bildet, müssen in der analytischen Bewertung noch weitere Gesichtspunkte angesprochen werden.

So unterscheidet die wissenschaftliche Ä. in Subjekt- und Objektästhetik.  Als Subjektästhetik untersucht Ä. die Bedingungen, welche für die Entstehung und die Allgemeingültigkeit von ästhetischen Werturteilen verantwortlich sind, bis zu den Bedingungen der Rezeption von Kunst durch den einzelnen und durch die Gesellschaft. Als Objektästhetik behandelt Ä. das weite Feld von Fragestellungen den Gegenstand betreffend. Hier ist zunächst unter den beiden Erscheinungsformen Naturschönes oder Kunstschönes zu unterscheiden: Naturschönes als Mimesis, also Nachahmung der Natur und Kunstschönes als ästhetische Überhöhung der Natur oder der Wirklichkeit, was auf ein "Seinsollen" hinweist.

Ein anderer Gegenstandsbereich untersucht das Verhältnis von Schönheit und Kunst in Reflexion zur Wahrheit und damit die ethische Geltungsansprüche von Ä. überhaupt. Dabei kommt es dann auch, "im Schatten des Schönen"  zur Einbeziehung der Ästhetik des Hässlichen.

Im Mittelalter, aber auch schon davor und gelegentlich noch danach, war Kunst Bestandteil des Kultes und die Ä. konnte dafür in besonderem Maße dienstbar gemacht werden. Das ging bis zur Unterhaltung der höfischen Gesellschaft. Ethisch fruchtbar wurde Kunst und damit auch die Ä. erst richtig, als sie sich davon gelöst hatte und zu einer Eigenständigkeit fand. In dieser Autonomie fragt dann Kunst gemeinsam mit der ihr intrinsischen Ä. nach Möglichkeiten, Angemessenheit und Notwendigkeit der Verwirklichung von Visionen in der Lebenswirklichkeit. Eines dieser Wunschbilder ist die ästhetische Erziehung des Menschen. Mit der Ä. soll eine Harmonisierung und Versöhnung zwischen Begierde und Vernunft, zwischen Sittlichkeit und Sinnlichkeit hergestellt werden können. Hier wird Ä. zum Medium ethischer Erziehung aufgewertet. Friedrich von Schiller (1759-1805), - seine Werke sind eine der Hauptquellen solcher Überlegungen, - sieht in seiner idealistischen Utopie eine solche Veredlung des menschlichen Charakters gar als Voraussetzung für die Errichtung eines Staates der Freiheit. Daneben sind die Werke von Gotthold Ephraim Lessings (1729-1781) und besonders seine Schrift "Erziehung des Menschengeschlechts" von paradigmatischer Bedeutung.

Ähnlich, wenn auch in anderer Richtung, die Überlegungen des Philosophen Georg Friedrich Wilhelm Hegel (1770-1831). Er bezieht Kunst in seine dialektischen Betrachtungen von These über Antithese zur Synthese mit ein. In Hegels Gedankenverknüpfungen ist nicht die Kunst, - und damit auch die Ä. als ein Teil von ihr, - die höchste Gestalt des Geistes, wie man aus den Ausführungen Schillers ableiten könnte, sondern die Philosophie. Allerdings erhält die Ä. innerhalb seines Systems einen prominenten Platz als Ausgangspunkt auf dem Wege zum absoluten Geist. In der Zeit der Romantik, eine Epoche in der sich auch der deutsche Idealismus hegelscher Prägung entfaltete, ist die Motivation der Kunst: Liebe, Treue, Buße. Die Malerei stellt die Innerlichkeit dar, die Musik wirkt auf die Seele, aber am höchsten bewertet wird die Dichtung. Nach Hegel dringt hier der Geist in das Wort.

Eine gesellschaftskritische, an Karl Marx (1818-1883) und dem Materialismus orientierte Theorie, sieht Kunst und Ästhetik zusammen mit Religion, Recht und Philosophie als Überbauphänomene zu der jeweiligen gesellschaftlichen Basis. Theodor Adorno (1903-1969) bezeichnet Kunst in seiner "Ästhetischen Theorie", analog zu seiner "Negativen Dialektik", als Antithese zur Gesellschaft. Jürgen Habermas (*1929) schließlich sieht in der Kunst, und damit auch in der darin eingeschlossenen Ä., einen, jeweils auf den entsprechenden Kulturraum bezogenen, sprachpragmatischen Geltungsanspruch.

Soweit ein Blick in die sehr verzweigten Perspektiven, aus denen sich Ä., als "Wissenschaft der sinnlichen Erkenntnis" betrachten lässt. Eine progressive Betrachtung sucht jedoch nach Bestimmungsmerkmalen, mit der man in normative, empirische, formale, spekulative, aber auch in psychologische Ä. unterscheiden kann, um die Verbindung zur Ethik transparenter zu machen. Die normative Ä., bildet, - neben der psychologischen, welche sich aus einem ekstatisch-kathartischen Hintergrund herleitet, - den Schwerpunkt in der Verbindung zur Ethik, also der "Wissenschaft der Moral" und der "Wissenschaft der sinnlichen Wahrnehmung". Anders ausgedrückt: die Beziehung von sinnlicher Wahrnehmung und Moral soll wissenschaftlich begründet werden. Damit diese moderne Sichtweise deutlicher wird, war es zunächst notwendig die verschiedenen Ausgangspositionen, dieser Überlegungen  klar zu definieren.

Zusammenfassend kann die Begriffsanalyse zum ethischen und ästhetischen Bewusstsein damit auf den Punkt gebracht werden, dass der Begriff Ethik, allein für die "Wissenschaft der Moral" steht und der Begriff Ä., - wie bereits angedeutet, - zweideutig ist. Dieser doppelte Sinn besteht darin, dass mit Ä. einmal die "sinnliche Wahrnehmung" schlechthin ausgedrückt wird und zum anderen die "Wissenschaft der sinnlichen Wahrnehmung". Es findet also auf zwei Bedeutungsebenen der gleiche Begriff Anwendung. Anders ist es bei dem Begriff Ethik: Hier trägt die eine Bedeutungsebene, - die des individuellen, emotional und Brauchtum abhängigen sittlichen Verhaltens, - die Bezeichnung Moral, dem zunächst der Begriff Ä. für die reine "sinnlichen Wahrnehmung" gegenüber gestellt werden kann. Während aber unsere Sprache für die "Wissenschaft der Moral" über den Oberbegriff Ethik verfügt, wird die "Wissenschaft über die sinnlichen Wahrnehmung" gleichfalls als Ä. bezeichnet.

Um hier zu einer klaren begrifflichen Trennung zu kommen, kann in eine subjektive und eine objektive Ä. unterschieden werden. Unter dem Begriff subjektiver Ä. soll dann nur noch die "reine sinnliche Wahrnehmung" verstanden werden, während die Bezeichnung objektive Ä. für die "Wissenschaft der sinnlichen Wahrnehmung" eingeführt wird. Damit ist es möglich auf eine Parallelentwicklung von Ethik und Ä. näher einzugehen. Auch in der Kunst ist eine religiöse und eine säkularisierte Entwicklungslinie zu erkennen. In der gesellschaftlichen Wirklichkeit dominiert jedoch glücklicherweise – umgekehrt als bei der Ethik – die undogmatische ästhetische Darstellung und die Mystifikation bleibt weitgehend auf die sakrale Kunst beschränkt.

Die Analytische Philosophie unterteilt nun in eine normative, eine deskriptive und eine Meta-Ethik. Diese Aufteilung lässt sich ohne Probleme auf die Ä. übertragen. Auch hier gibt es Normen, ebenso wie eine beschreibende Ä. in der Kunst. Was allerdings in dieser erweiterten Sichtweise unter einer "Meta-Ästhetik", - also als Methodologie der Ä., - verstanden werden soll, muss abschließend noch genauer erläutert werden.

In der Analytischen Philosophie wird außerdem in eine non-kognitive und eine kognitive Ethik unterschieden, aber gleichzeitig festgestellt, dass beide Standpunkte weder wahr noch falsch sind. Das Gleiche könnte auch für die Ä. gelten, wenn man unterteilt in eine Ä. die keine Erkenntnisse vermittelt, also eine non-kognitive Ä. und eine Ä., mit welcher es auch intuitiv zu Erkenntnissen kommen kann, also eine kognitive Ä.. Für beide Positionen gilt ebenso, dass sie weder wahr noch falsch sind. Eine Wissenschaft der sinnlichen Wahrnehmung, lässt sich durchaus als non-kognitive Ä. einer non-kognitiven Ethik gegenüberstellen. Hier geht es ja nur um Wahrnehmung und nicht um Erkenntnis, was der Gegenstand einer kognitiven Ä. wäre. So erscheint es sinnvoll zwischen Wahrnehmung und Erkenntnis noch einmal zu unterscheiden.

Damit gewinnt auch der Begriff "Wissenschaft der sinnlichen Erkenntnis", den Baumgarten als festen Terminus in die Philosophie einführte, epistemische Bedeutung. Er steht für eine Methodologie der Ä., ist quasi die meta-ästhetische Position.

 

Eine tabellarische Übersicht soll diese Theorie verdeutlichen:

Sittliches Verhalten:

Moral

Sinnliche Wahrnehmung:

subjektive Ästhetik

Wissenschaft der Moral:

Ethik

Wissensch. d. sinnl. Wahrnehmung:

objektive Ästhetik

Methodologie der Ethik:

Meta-Ethik

Wissensch. d. sinn. Erkenntnis:

Meta-Ästhetik

 

ERICH SATTER

 

zurück zur Hauptseite