Erich Satter Philosoph

Leseprobe

"Lexikon freien Denkens":

Kunst, die

Kunst ist, - frei nach Emile Zola (1840-1902) -, ein Stück Kultur, durch ein Temperament gesehen. Mit dieser metaphorischen Auslegung gelingt dem französischen Romancier und Kulturkritiker wesentlich besser das Wesen der K. zu pointieren, als es der eher triviale Satz: "Kunst kommt von Können", auszudrücken vermag. Ein solcher Erklärungsversuch kann bestenfalls einen Sekundärbereich berühren, weil er sich fast ausschließlich auf Fertigkeiten bezieht bei denen die emotionale Erlebnisfähigkeit nicht die notwendige Berücksichtigung findet. Nur unter dieser eingeschränkten Perspektive hat die Bezeichnung "Künstler" für Artisten und ähnlicher Protagonisten der Unterhaltungsbranche eine gewisse Berechtigung.

Damit wird klar, dass der Begriff K. mehrere Bedeutungen haben kann. Genau genommen unterliegt er einer primären und zwei sekundären Gewichtungen, denn nicht nur für ein darstellerisch-technisches, sondern auch für ein herstellerisches Können kennt unsere Umgangsprache den Terminus Kunst. Dabei entsteht mit dem Wort künstlich eine dritte Bedeutungsebene, wenn es im Gegensatz zu natürlich gebraucht wird. Im weitesten Sinne steht der Begriff K. für eine künstlerische Ausdruckskraft und deren Erzeugnisse, nachgeordnet für technisches Können und ebenfalls nachgeordnet für die künstliche Herstellung eines Produktes wie Kunsthonig oder Kunstblumen, also künstliche Nachahmung von etwas Natürlichem. Wird das Wort K. für technisches Können verwendet, besteht zumindest noch in Bezug auf eine besondere Begabung, eine Verbindung zu diesem K.-Begriff. Nur für "künstliches" Herstellen, im Gegensatz zu natürlich Entstandenem gebraucht, verschwindet auch diese Verbindung. Zwischen "Kunststoff" und einem "Kunstwerk" besteht eben nur noch eine semantische Beziehung, aber keine Übereinstimmung auf der Bedeutungsebene. Wird jedoch die "künstliche Intelligenz" angesprochen, verbindet sich wieder die K. eines technischen Könnens mit dem Begriff von künstlichem Herstellen. So kommt es zwar bei den drei Bedeutungsebenen zu keiner Identität, aber es lässt sich eine Beziehung erkennen, welche auf einen historischen Hintergrund verweist.

Aber nicht nur aus dieser relativ einfachen vertikalen Sicht bedarf es einer Klarstellung in der Begrifflichkeit, sondern mehr noch auf der horizontalen Ebene, welche kulturelle, ethische und psychologische Komponenten mit einschließt. Werden diese Zusammenhänge nicht differenziert betrachtet und das primäre Phänomen K. nicht in seiner universellen Gesamtheit erfasst, kann es in der Lebenswirklichkeit, - und gelegentlich auch in der Kunstkritik - zu schweren Missverständnissen kommen, mit zum Teil sinnentstellenden Fehlinterpretationen von Gegenstand und Inhalt.

Mit dem Begriff K., wie sich dieses Phänomen wissenschaftlich und philosophisch darstellt, wird die Summe eines sensiblen Ausdrucks- und Gestaltungsmediums bezeichnet, welches dort beginnt, wo Sprache endet. Alles was verbal mit Worten allein nicht zu erklären ist, versucht die K. auf der nonverbalen Ebene zu vermitteln. Sie dient damit auch der Befriedigung emotionaler Bedürfnissen. Für Jürgen Habermas (*1929) ist K. einer der Handlungsbereiche, die sich im Zuge des neuzeitlichen Rationalisierungsprozesses innerhalb der Kultur ausdifferenziert haben und den grundlegenden rationalen Weltbezügen des Menschen entsprechen. Mit diesem Medium gestalten Künstler Werke ihrer subjektiver Welterfahrung, die sie als exemplarisch empfinden. Das Kunstwerk wird dabei zu einem Kommunikationsmedium. Analytisch betrachtet sind drei Ebenen zu unterscheiden. Der Gegenstand, der Inhalt der Gegenstände und eine historische Entwicklung.

Der Gegenstandsbereich von K. lässt sich, - vereinfacht betrachtet, - in drei Kategorien unterteilen: die Bildende, die Schöpferische und die Darstellende K. Diese Einteilung kann sich jedoch nur auf die Schwerpunkte beziehen. Zwischen den einzelnen Kategorien bestehen stufenlose Übergänge, sodass in jeder Kategorie Merkmale der anderen Kategorien in verschieden starker Ausprägung vorhanden sind. So ist die bildende K. zwar auch eine schöpferische, aber was den Theater- und Musikbetrieb betrifft, ist die schöpferische von der darstellerischen Seite noch einmal getrennt zu betrachten. Hier entstehen eigenständige Kategorien. Zur Kategorie der schöpferischen K. zählen die Werke der Dichter und Schriftsteller in Poesie und Prosa sowie die der Komponisten, zur darstellenden K. die Tätigkeit der Schauspieler, der Sänger und der Instrumentalsolisten. In der letzten Kategorie spielt natürlich das technische Können eine herausragende Rolle. Hier scheint auch die Quelle der bereits angeführten einseitigen Interpretation: "Kunst kommt von Können", ihren Ursprung zu haben. Primär ist jedoch bei den Akteuren in diesem Genre die künstlerische Ausdruckskraft, welche sich aber nicht auf den kognitiven Bereich beschränkt, sondern analog dazu sinnliche Erfahrbarkeit einschließt. Die bildende Kunst umfasst alle Gebiete der Malerei, der Grafik und der Bildhauerei, einschließlich Skulptur und Plastik, bis hin zur Architektur, bei der sich jedoch die Grenzen zwischen Kunst und Kunsthandwerk verwischen.

Der Inhalt dieser drei Sphären offenbart sich in jeweils drei Perspektiven: Erstens einer mimetischen, zweitens einer ästhetischen und drittens einer ekstatisch-kathartischen. Die mimetische Perspektive sieht K. als Nachahmung der Natur. Aus der zweiten Perspektive betrachtet fällt der K. die Aufgabe zu, die Realität ästhetisch zu Überhöhen, um den tristen Alltag erträglicher zu gestalten. Dies reicht vom "interessenlosen Wohlgefallen" (Kant) bis zu einer "wirklichkeitsfernen Erdichtung des schönen Scheins" (Hegel). Die ekstatisch-kathartische Perspektive schließlich, dient einer Reinigung und Befreiung der Psyche. Hier wird die Schönheit in der K. abgelöst durch Wahrhaftigkeit und es kommt zur Problematisierung der Grenze zwischen K. und Realität. Hier macht K. auch betroffen, besonders wenn sie ihre Mittel dazu einsetzt, um durch Übertreibung Aufmerksamkeit zu provozieren.

Von der Antike bis zum Mittelalter werden jedoch die sogenannten "schöne Künste" noch nicht streng von den verschiedenen Wissensgebieten und dem Handwerk unterschieden. So schreibt Theodor W. Adorno (1903-1969) in seiner "Ästhetischen Theorie": "Kunst hat ihren Begriff in der geschichtlich sich veränderten Konstellation von Momenten; er sperrt sich der Definition". Er scheint damit zwei Entwicklungslinien ansprechen zu wollen: Erstens verweist er damit auf die Entwicklung bzw. Reduzierung, der die drei als derzeit gültig angeführten Gegenstandsbereiche historisch unterworfen waren. Die artes mechanicae = mechanische Künste, zu denen neben dem Handwerk auch Malerei und Bildhauerei gehörten und die septem artes liberales = den sieben freien Künsten, welche noch Grammatik, Rhetorik, Literatur, Dialektik, Arithmetik sowie die Geometrie umfassten. Zweitens macht er auf den Autonomieanspruch der Kunst aufmerksam, der auch eine Ablösung von der Aufgabe einer Unterhaltung der höfischen Gesellschaft und/oder Reduzierung auf die Illustration christlicher Glaubensinhalte bedeutete, - was K. in der Tat, besonders im Mittelalter lange Zeit gewesen zu sein scheint.

Die historische Entwicklung des Phänomens K. wie es sich in seiner gegenwärtigen Ausprägung darstellt, dürfte jedoch seinen Ursprung in den  sogenannten plurifunktionalen Führungssystemen haben, zu denen neben Informationsgewinnung und der Verhaltenssteuerung auch die Befriedigung emotionaler Bedürfnisse zählen. Sie beginnt - in aller notwendigen Kürze - vereinfacht dargestellt, bei den Höhlenmalereien der sogenannten primitiven Kulturen sowie dem kultischen Tanz und führt über den Kultgesang und der griechischen Tragöde hin zu den moderneren Formen der Illustrationen, des Theaters einschließlich des Musikdramas, dem Ballett und dem gesamten Konzertbetrieb. Die anfänglich nur symbolhaften Deutungen der Höhlenmalereien entwickelnden sich zu einer Art erzählenden und allegorischen Bildgestaltung - bei der zu Beginn noch das handwerkliche Können im Vordergrund stand - über den Impressionismus und den ausdruckstarken Expressionismus, hin zur modernen Malerei. Auch bedingt durch die Erfindung der Fotografie und der Filmkunst, wich die gegenständliche Darstellung immer mehr symbolhaften Mitteln, verschwand jedoch nicht völlig, wird aber zunehmend von emotional bestimmten Ausdrucksformen geprägt. Ähnliches gilt auch für die Literatur, in der das reine "Geschichten Erzählen" häufig von den Feuilletons der Zeitungen und Zeitschriften sowie dem Fernsehen übernommen wird. In der Architektur gewinnt das Funktionale gegenüber dem Ästhetischen mehr und mehr an Gewicht. Schließlich entsteht in der sogenannten Objektkunst bzw. den Performance eine neue Kunstform. War anfänglich die K. überwiegend religiös bestimmt, ist sie heute weitgehend säkularisiert und ihre Interpretation ist realistisch bis utopisch, satirisch, hauptsächlich ethisch motivierenden sowie moralisierend, entlarvend und bisweilen auch anklagend. Ein dominierender Bereich ist die erotische K.. Friedrich Nietzsche (1844-1900) sieht schließlich in der K. die höchste produktive Vermittlungstätigkeit des substanziellen Willens seiner Zeit, in dem dieser Wille sich in den Werken seiner Zielgestalten produziert und damit klärt, was er je zu dieser seiner Zeit will. Schließlich wird das Ideal der Schönheit in der Moderne durch einen Anspruch von Authentizität abgelöst und die Tendenz zur Problematisierung verstärkt. Gleichzeitig lässt sich auf dem Weg zur Moderne auch ein "Philosophischwerden" der K. feststellen, was man u. a. an den Werken des Dichterphilosophen Friedrich Nietzsche und den Bildern Paul Klees (1879-1940) erkennen kann.

Im Kunsthandwerk sind die Übergänge von Kunst zum Kitsch fließend. Es beginnt, - wieder vereinfacht dargestellt, - gegebenenfalls bei der Druckkunst, der Gebrauchsgrafik sowie der naiven Malerei auf der einen Seite, und der Volksmusik sowie der Belletristik auf der anderen Seite. Dieser Weg führt dann u. a. über die verschiedenen Formen von kunstgewerblicher Erzeugnissen, auch in folkloristischem Stil, und endet vielleicht bei der Produktion von "Gartenzwergen" und der Darbietung "volkstümlicher Musik". Hier werden dann nur noch Gefühlsbereiche auf der denkbar untersten Ebene angesprochen und es findet absolut keine intellektuelle Reflexion mehr statt. Aber gerade die Reflexion von geistigem Bewusstsein und der Sinnlichkeit ist kennzeichnend für die K. und bildet so auch eine Parallele zur Religion, bei der ebenfalls eine Reflexion von Geist und Gefühl zu erkennen ist. Auf diesem Hintergrund kann man K. auch als säkularisierte Religion empfinden, besonders weil sich hier diese Reflexion auf höchstem Niveau vollzieht. Unabhängig davon gehört K. gleichberechtigt neben Sprache und Religion zur kulturellen Grundlage des Menschseins.

Wie schwierig jedoch eine umfassendere Erklärung des Phänomens K. ist, hat bereits der Sprachphilosoph Ludwig Wittgenstein erkannt, wenn er sinngemäß ausführt: "es ist besser über Kunst nichts zu sagen, als etwas zu sagen", womit er dem Gegenstandsbereich insofern gerecht wird, als er ihn auf sich selbst zurückführt.

In der K.-geschichte wird dann noch in Stilepochen, beginnend bei der Romanik (1000-1250) über die Gotik (1150-1450), Renaissance (1400-1550), Barock (1600-1650) mit Übergang zum Rokoko (1720-1775), Klassizismus (1775-1850) und Jugendstil bis hin zur der Moderne und Postmoderne unterschieden. Die Zeitangaben können nur ungefähr sein, weil sich die verschiedenen Stilrichtungen zeitlich und regional überschneiden.

ERICH SATTER

 

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